Windstille

Mai2022

Windstille

Am Fenster stehend blickte Filippo auf seine drei Töchter. Eine innere Ruhe, so groß wie das platte Meer, überkam ihn und mit einem tiefen Atemzug inhalierte er den Augenblick. Es kam nicht mehr oft vor, dass sich alle drei zu einem gemeinsamen Mittagessen bei ihm einfinden und dann bleiben konnten.
 
Während sie im Garten auf ihn warteten, plauderten sie friedlich miteinander. Sie glaubten ihn noch bei seinem Nachmittagsschläfchen, gönnten ihm die halbe Stunde Ruhe und spürten nach, wo sich ihre Erinnerungen und aktuellere Erlebnisse verweben ließen.
 
Wie sehr sie sich doch ähnelten. Von seinem Fensterplatz im ersten Stock konnte er sie kaum auseinanderhalten. Pinta stach ein wenig hervor. Sie war die Jüngste und die Größte.  Ein Rohdiamant, den das Leben mit etwas Glück noch schleifen würde.
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Filippo erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen immer einen Zauberstein mit sich herumtrug. Mit ihm hatte sie eine lange weiße Schlange auf sein dunkles Auto gemalt. Für Pinta war es die Schlange aus einem Kinderbuch. Filippo erinnerte sich genau. Die Schlange will darin eine kleine Maus fressen, und der Maus gelingt es, sie auszutricksen, indem sie von ihrem Freund, dem Monster erzählt. Als Filippo die Schlange entdeckt hatte, war er allerdings selbst zum Monster geworden. Was hatte er geflucht und sogar seine Frau Emanuela, Gott hab sie selig, beschimpft, weil sie nicht besser auf das Mädchen aufgepasst hatte. Oder auf das Auto. Das blieb in dem Gezeter unklar.
 
Es tat es ihm leid, wie er damals die Fantasie seiner Tochter mit Füßen getreten hatte, und er sah Pinta wieder vor sich, wie sie geweint und Zuflucht bei seiner Frau gesucht hatte. Emanuela war es erst nach Tagen gelungen, sie zu beruhigen, das Monster wieder einzufangen und zu bändigen. Heute merkte man Pinta nichts mehr an. Sie hatte ihre Kreativität zu ihrem Beruf gemacht, war erfolgreich und sah glücklich aus.
 
Maria stand nun auf und ging in die Küche, um den Wasserkrug nachzufüllen. So wie einst seine Frau war Maria diejenige, die sich immer um die anderen kümmerte. Den Ehrgeiz hatte sie allerdings von ihm, daran zweifelte er keinen Moment. So wie früher seine Frau, war jetzt Maria der Leuchtturm in der Familie. Wenn jemand ein Problem hatte, dann gingen alle zu ihr. Unter seinen Töchtern war sie diejenige, die sich auch um ihn am meisten bemühte. Er hatte sich daran gewöhnt, doch manchmal überkam ihn ein flaues Gefühl, dann nämlich wenn er Dankbarkeit verspürte für Marias Ähnlichkeit mit seiner Frau Emanuela, die dadurch ein bisschen weniger tot war.  
 
Pinta musste grad etwas Lustiges erzählt haben, denn nun lachte Nina laut auf. Ihr Lachen war bis in den oberen Stock zu hören und Filippo musste schmunzeln. Ihr Lachen war klar und sprudelnd wie ein Gebirgsbach und genauso mitreißend. Wenn Nina lachte, dann lachte auch er und plötzlich fühlte sich sein Leben leicht und gut an. So wie jetzt. Er schaute auf seine drei Töchter und beschloss sich ihnen anzuschließen.