Sie war sich wie vor einem dieser Greifautomaten vorgekommen, mit denen man versucht, ein süßes Plüschtier herauszuholen. Es liegt schon in der Kralle und plötzlich fällt es raus und jeder weitere Versuch es zu fassen scheitert ebenso. Mia musste mehrmals im Hotel anrufen, immer wieder E-mails schreiben, bis sie ihr Zimmer endlich wieder hatte. Am liebsten wäre sie hingefahren und hätte es besetzt, eingenommen bis zu ihrem Termin. Die Aufregung hat sie am Arbeiten gehindert. Seit Stunden sitzt sie jetzt am Computer, damit sie morgen die Bilder übergeben kann. Nur noch ein Bild, dann ist sie fertig.
Wie ein Adler kreist ihr Blick über das Foto, um kleine Störenfriede zu entdecken, die Mia dann in Fotoshop bearbeitet. Einmal die Runde, zweimal, bis seine Aufmerksamkeit an einem alten Schild in der Mitte hängen bleibt. Vietato kann sie noch gut entziffern, Verboten, der Rest ist zu klein. Neugierig vergrößert sie das Bild.
Vietato soffermarsi e lordare steht auf dem Schild. Was das heißt, weiß sie nicht. Sie weiß aber, dass sie eine Antwort geben will, wenn ihre Kunden sie nach der Bedeutung des Schildes fragen. Schon tippt sie die Wörter in einen online Übersetzer ein, der wirres Zeug ausspuckt: Es ist verboten zu verweilen und zu ekelig. Ekelig ist Quatsch, das muss sie nochmal googeln. Aber Verweilen enttäuscht sie auch. Was heißt das eigentlich? Bevor sie ein Synonym finden kann, fantasiert sie Bilder von einer grünen Bank neben einer Trauerweide am See, die ihre langen Äste ins Wasser fallen lässt. Kleine kreisförmige Wellen gehen von den Zweigen aus, wenn der Wind sie bewegt. Jetzt die Schuhe ausziehen und die Füße im Wasser baumeln lassen.
Als hätte sie alleine schon der Gedanke an das kühle Wasser wachgerüttelt, kehrt sie zu ihrer Arbeit zurück. Sie muss fertig machen. Zurück zum Wort. Tippen ist schneller ist denken. Soffermarsi kann auch mit aufhalten, sich aufhalten übersetzt werden. Vielleicht ist es wegen der Enge der Gassen gefährlich, wenn sich zu viele Menschen auf einem kleinen Platz aufhalten, drängen und es besteht das Risiko, dass jemand in den Kanal fällt. Oder die Venezianer wollen keine Bettler, die sich hier aufhalten, herumlungern. Kompliziert, denkt sich Mia.
Jetzt gibt sie das zweite Wort ein. Lordare. Hässlich. Ist es verboten im schönen Venedig hässlich zu sein?
Mia ist so müde, dass das Lachen nicht mehr die Muskeln in ihrem Gesicht erreicht. Nur noch ein Versuch. Sie gibt die Kombination lordare + significato in die Suchmaschine ein. Während sie die Einträge mit den italienischen Erklärungen überfliegt, hofft sie ein bekanntes Wort zu finden. Da fällt ihr sporcare ins Auge. Das Wort kennt sie, es heißt beschmutzen. Das macht Sinn und passt zu ekelig. Ein Verbot, Abfälle hier liegen zu lassen oder die Hauswand zu beschmieren.
Mia zögert, was hat ein Aufenthalts- und Verschmutzungsverbot in ihrem Hochzeitsbild zu suchen? Sie streckt sich in ihrem Sessel, lehnt sich nach hinter, dreht den Kopf schief und starrt auf das Foto. Wie eine Spinne spukt sie ihren Faden aus und verwebt das Verbot mit dem Hochzeitspaar. Vietato sporcare. Die weiße Braut wird zum Opfer, doch Mia lässt sich nicht auf den Gedanken ein. Da muss doch mehr dahinterstecken, schließlich können Frauen und Männer gleichermaßen mit Dreck werfen. Aus einer dunklen Ecke kriecht die Erinnerung an den Rosenkrieg ihrer Eltern hervor und verströmt seinen widerlichen Geruch. Schnell verbannt sie den Geist wieder in die Flasche. Darauf hat sie jetzt keine Lust.
Unruhig rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her, nähert sich dem Bildschirm, zoomt das Foto ein und aus.
Vietato soffermarsi. Die einzelnen Worte jagen sie wie im Fiebertraum, peitschen Bedeutungen und Gefühle aus ihr heraus. Soffermarsi – ruhen lassen, stehen bleiben. Sie will nicht stehen bleiben, kann nicht ruhen lassen. Es ist verboten stehen zu bleiben. Niemals stehen bleiben. Immer weiter. Immer Neues.
Mia starrt auf das Hochzeitspaar. Der Anblick lähmt sie. Sie weiß, was geschieht, wenn einer in der Beziehung stehen bleibt. So wie Matthias. Er war vorhersehbar geworden, und sie hatte ihn verlassen.
Sie will nicht an Matthias denken. Er hat nichts mit diesem Foto zu tun. Sie haben nie von Heirat gesprochen. Es ist das Bild. Das Bild spritzt Gift in ihr Gehirn. Sie muss Schluss machen, will die Datei schließen, da durchströmt sie die Überzeugung, dass das Schild ihr etwas sagen will.
Aber was? Seit sie es bemerkt hat, lässt es sie nicht mehr los und zieht sie immer mehr in seinen Bann. Die schwarzen Buchstaben laufen wie Ungeziefer auf sie über, injizieren ihre Botschaft.
Verboten. Du darfst nicht! Du sollst nicht! Du musst! Sie hört ihre Mutter schreien, ihren Vater toben, Matthias leise weinen. Vor ihren Augen fangen kleine schwarze Punkte an zu tanzen, sie kommen näher und näher, werden größer und wachsen zu weißen Verbotstafeln an, auf denen schwarz Vietato steht. Es sind so viele. Wie Planeten fliegen sie von allen Seiten auf sie zu, der Zusammenprall steht kurz bevor. Mia wird schwindelig, kalter Schweiß auf ihren Händen und im Gesicht. Trommelwirbel in den Ohren.
Das Klingeln des Handys entreißt Mia dem höllischen Strudel. Annika, die Freundin, die im Nachbarhaus wohnt, ist gerade nach Hause gekommen und hat bei Mia noch Licht gesehen.
„Stör ich“ fragt sie.
„Nein“, schluchzt Mia und reißt sich vom Bildschirm los, „kann ich zu dir kommen?“