Tief drinnen weiblich

06 Quantitaeskontrast 2 Bearbeitet 1

Tief drinnen weiblich

Frühmorgens holte das Taxi  Carlo ab und brachte ihn zum Bahnhof. Während der Fahrt schlief er die meiste Zeit. Gegen Mittag kam er  in Hamburg an.
 
Das Hotel, in dem er ein Zimmer gebucht hatte, lag in St. Pauli. Es war immer dasselbe. Und immer wenn er ankam, packte er seine Taschen und den Koffer aus, hing seine Sachen fein säuberlich in den Schrank oder legte sie in den Regalen ab oder verteilte sie im Badezimmer. Dann steckte er sich ein federleichtes, rotes Seidentüchlein in die linke Brusttasche seines Sakkos und machte sich auf den Weg hinunter zu den Landungsbrücken. Matrosenluft atmen, den Schiffen zusehen mitten unter all den schönen Menschen des Nordens. Er konnte stundenlang in einem Lokal oder irgendwo am Hafen sitzen und sich an ihrer Helligkeit laben, sie in ihren Bewegungen verfolgen, bei denen ihr schlanker, hoher Wuchs zur Geltung kam und eintauchen in ihre eisklaren Augen, für die es keine Hindernisse zu geben schien.
weiterlesen
Am späten Nachmittag kehrte er in sein Hotel zurück. Dort wusch er sich die Reste des Alltagslebens vom Leib und machte sich an die Verwandlung. Nach Stunden minutiöser Kleinstarbeit stieg Phönix aus der Asche und erstrahlte in tausend Farbnuancen. Mit jedem Pinselstrich gewann er an Kraft und Stärke und wurde zu einem Kometen, der nicht mehr aufzuhalten war. Eine einzige Zeremonie von Lust und Schönheit, an der auch das Kleid aus hellen Wolken und sonnenstrahlenden Paillettenschuppen und die Frisur teilnahmen. Das blonde Haar türmte sich in den Himmel, goldene Wellen griffen wie die Arme eines Kraken ineinander. Die funkelnden Augen leuchteten mit den grünen Glitzersteinen um die Wette.
 
Freia war geboren, war am Leben und verlangte ihr Tribut.
 
Die Karaokebar lag nicht weit vom Hotel entfernt. Als Freia das Lokal betrat, näherte sie sich wie eine satte Raubkatze ihrem Rudel. Überschwänglich begrüßte sie Priscilla und Olivia, ihre wahren Schwestern, ihre Mütter, ihre Heimat, verschenkte großherzig Worte und Umarmungen und genoss sie ihrerseits wie die Wüste den lang ersehnten Regen.
 
Als es soweit war, betrat Freia die Bühne. Im Lokal herrschte nach der letzten Performance ausgezeichnete Stimmung, die Gäste plauderten und lachten, einige tanzten sogar, andere fieberten ihrem eigenen Song entgegen. Inmitten dieses Lärms setzte die Musik an, und als Freia anfing zu singen, bahnte sich ihre Stimme langsam aber unaufhaltsam ihren Weg hin zum Publikum. Binnen weniger Minuten wandten sich die Gäste von ihren Unterhaltungen ab und Freia zu. Einen nach dem anderen nahm sie gefangen und injizierte ihnen ihre Leidenschaft. Mit dem Ende des Liedes zog das Meer der Geräusche sich angespannt zurück, um kurz darauf in einem Sturm der Begeisterung über sie hinweg zu preschen. Ein Augenblick, der sich tief in ihr verewigte.
 
Die stolzen Küsse und Umarmungen ihrer Freundinnen, die lechzenden Komplimente fremder Männer, die hingebungsvollen Blicke der Gäste saugte sie auf wie ein hungriger Ameisenbär. Dafür lebte sie.