Klara
Der vorbeifahrende Zug schreckte Klara aus ihrem Traum wie der hingebellte Befehl eines Offiziers, der die Reihen seiner Soldaten abschreitet. Der Puls pochte noch in ihren Schläfen, als sie sich in ihrem Sitz zurechtrückte, um sich an der Landschaft draußen zu orientieren. Da blieb ihr Blick an einem funkelnden Punkt inmitten des dunklen Waldes hängen.
Sie holte ihr Handy hervor, schaute wie spät es war und glich im Kopf die Zeit mit der geplanten Ankunft des Zuges ab. Dann sah sie wieder nach draußen und merkte, dass es die Spitze eines Kirchturms war, der, jetzt kaum noch erkennbar, vorhin noch den Glanz der Sonne zurückgeworfen hatte. Sie atmete langsam und tief aus. Das Handy behielt sie in der Hand.
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Kurz vor der Ankunft in München drängten sich die meisten Fahrgäste bereits auf dem Mittelgang. Darunter viele Passagiere mit Tüten und Taschen, die wie Klara hierher unterwegs waren oder sogar weiter reisten. Klara hatte keine Eile und blieb erst mal sitzen. Ihr Blick huschte von einem Passagier zum nächsten und blieb an einer Frau schräg gegenüber hängen. Die Frau war um die fünfzig, mittelgroß und blond. Auf den ersten Blick im Äußeren Klara sogar ähnlich, was diese aber weit von sich gewiesen hätte. Allein der zwei Zentimeter lange, dunkle Haaransatz war Welten von ihr entfernt. Und dann die weiße Handtasche, die quer im Ellenbogen der Frau schaukelte. Klara hatte eine ähnliche bereits vor Jahren im Container der Caritas entsorgt.
Jetzt drehte sich die Frau, wobei ihr Blick weit in den Raum glitt. Ihre Hand war leicht geöffnet und nach oben gedreht, die roten Fingernägel leuchteten. Der zuckende Ringfinger schickte Morsezeichen aus. Mit der anderen Hand rückte die Frau ihre Sonnenbrille im Haar zurecht, dann streifte sie über ihr gelbes Wickelkleid den runden Hüften nach. Offene und versteckte Blicke der umstehenden Passagiere klebten an ihr, und es dauerte nicht lange, bis eine Motte angeflogen kam, ihr den Koffer von der Ablage hob und vor sich her in Richtung Ausgang schob.
Erlöst stand nun auch Klara auf, holte ihr Gepäck und stieg schließlich auf das Bahngleis. Dort sah sie zuerst nach links, dann nach rechts, geradeso als ob sie vor einem gefährlichen Straßenübergang stände und steuerte dann dem Ausgang Arnulfstraße zu, um mit dem Taxi in ihre kleine Pension zu fahren.
In ihrem Zimmer angekommen verstaute sie ihre Sachen und nahm mit ihrer Playlist das Badezimmer in Beschlag. Es waren Songs aus den Achtzigern. Zur Musik von Madonna hatte Klara in den Discos getanzt, war jedes Wochenende von einer Party zur nächsten gezogen. Bis sie Roger, ihren Mann kennenlernte. Die Wochenenden verbrachten sie von nun an zu zweit, waren glücklich.
Madonna sang auch jetzt, als sie sich Lotion über ihr rechtes Bein streichelte, den Unterschenkel hoch bis in die Kniekehle. Roger war Vergangenheit, heute sollte Maurice ihre babyzarte Haut bemerken, ihre Muskeln spüren, keinen Makel finden.
Endlich war sie das Material Girl, das sich nahm, was es wollte. Endlich hatte sie den Mut aufgebracht und das Date mit Maurice gebucht. Seit Roger fort war hatte sie sich auf zwei kurze Männergeschichten eingelassen, die ihre Erwartungen in kürzester Zeit zu Enttäuschungen zusammenschrumpfen ließen. Sie hatte keine Lust auf weitere Experimente. Roger hatte sich seinen Spaß gegönnt und dabei keine Rücksicht auf sie genommen. Sie hätte ihm das Abenteuer verziehen, wenn er sich wenigsten die Mühe gemacht hätte, Reue zu zeigen. Hatte er aber nicht. So keimte schon seit längerem die Sehnsucht in ihr, es ihm gleich zu tun und sich dabei gute Qualität zu fairem Preis zu gönnen.
München war ideal für ihr Vorhaben. Im Internet hatte sie schnell den passenden Mann gefunden. Am Ende hatte seine weiche, ruhige Stimme den entscheidenden Ausschlag gegeben. Sicher führte er sie durch die organisatorischen Details, so dass sie nur noch bestätigen und die Anzahlung leisten musste. Klara war überzeugt, mit Maurice hatte sie eine gute Wahl getroffen.
Ebenso wie mit ihrem neuen dunkelgrünen Kleid, das sie sich extra für den Abend gekauft hatte. Die Farbe, so fand sie, stand ihr ausgezeichnet, und ihre Augen leuchteten. „Grün wie die Hoffnung“, schoss es ihr durch den Kopf, und sie flüsterte in den Spiegel: „Die stirbt zuletzt“.
Punkt sieben rief sich Klara ein Taxi, das sie ins Hotel brachte. Lange hatte sie überlegt, Maurice in die Pension zu bestellen, wo sie jahrelang mit Roger abgestiegen war, hatte am Ende aber anders entschieden. Diese Nacht wollte sie einpacken und wegräumen können. Wohin, das wusste sie noch nicht.
So schritt sie jetzt wie ferngesteuert der großen Eingangstür des Hotels entgegen. Ihr Herz hämmerte lauter und schneller mit jedem Tritt, und eine Welle der Nervosität brauste über sie hinweg und drohte alle Absichten mit sich fort zu schwemmen. Klara hatte geahnt, dass das passieren würde und steuerte geradewegs dem Rettungsanker an der Rezeption entgegen. Die Fragen erlösten sie, sie verlangten nur kurze Antworten. Als sie endlich ihre Zimmerkarte in der Hand hielt, fühlte sie sich besser. Sie hatte den Sprung ins Meer gewagt, nun musste sie nur noch schwimmen.
Ihr Mund jedoch war wie ausgetrocknet und da sie früh dran war, entschied sie spontan, an der Bar noch einen Prosecco zu trinken.
Die Hotelbar war fast leer. Klara wusste nicht recht wohin und ging durch den Raum, bis sie etwas abseits ein kleines Zweiertischchen am Fenster sah. Eine Zimmerpalme hatte es zuerst verdeckt, eine von denen, wie man sie oft in Warteräumen findet. Bevor Klara sich setzte, kontrollierte sie, ob sie von dort den Hoteleingang im Blick hatte. Dann nahm sie Platz.
Es war sehr ruhig. Jazz hing in der Luft. In sich gegenüberstehenden, dunklen Ledersesseln dösten zwei ältere Leutchen vor sich hin. Näher am Eingang telefonierte eine Frau, während neben ihr ein Kind am Tisch mit Malen beschäftigt war. An der Bar ein einzelner Rücken in einem elegant wirkenden Jackett. Der Mann saß leicht nach vorne gebeugt auf einem Hocker, das Bier daneben sah frisch und ehrlich aus und für einen Moment überlegte Klara, ob sie nicht auch ein Bier trinken sollte. Doch als der Kellner an ihren Tisch kam, bestellte sie Prosecco.
Draußen war Wind und Regen aufgekommen. Schon war die Scheibe voller Tropfen. Tausende kleine Wasserwürmer steuerten aufeinander zu, vom Sturm getrieben, um dann zu verschmelzen und an der Scheibe herunterzulaufen und zu verschwinden.
Klara holte ihr Handy hervor und sandte Maurice wie vereinbart ihre Zimmernummer. Es waren noch gut 20 Minuten bis zum Date. Der Kellner brachte den Prosecco und Klara nahm einen ordentlichen Schluck. Wie eine dieser Neujahrsraketen schoss er die Kehle hinunter und explodierte in ihrem Magen. Das kleine Feuerwerk sprühte bis in ihre Nase und brachte sie in Feierlaune. Sie fing an, die Situation zu genießen.
Entspannt wanderte Klaras Blick durch den Raum und blieb wieder am Mann an der Bar hängen. Sie wunderte sich, wieso sie fast so was wie Interesse für ihn verspürte. Maurice würde jedenfalls jünger sein, seine Haare noch schwarz. Im Videochat hatte er um die Vierzig gewirkt, aber nach seinem Alter wollte sie nicht fragen.
Nun stand der Mann auf und zog seine Jacke aus. Dabei drehte er sich um und sah sie an. Ohne jegliche Vorwarnung platzte eine Bombe in Klaras Bauch und die Druckwelle schoss ihr die Beine weg und jagte über ihre Fingerspitzen hinaus. Das erste was ihr in den Sinn kam war: „Nicht jetzt.“
Auch Roger hatte sie entdeckt und kam lachend näher. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Klara daran, aufzustehen und wegzugehen. Doch dafür war es zu spät, außerdem versperrte ihr diese blöde Palme den Weg.
Roger stand nun vor ihr und strahlte sie an. Er fragte sie, was sie denn hier täte und was das für ein Zufall sei, und überhaupt, wie es ihr ginge und dass sie gut aussehe und dass er sich freue sie hier zu sehen. Und je mehr er fragte und redete und strahlte, desto ruhiger wurde Klara. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Roger war nervös. Er war nervös wegen ihr. Sie sah ihn an und lächelte.
Oben im vierten Stock klopfte ein schwarzhaariger Vierzigjähriger an eine Tür und wunderte sich, dass niemand öffnete. Er kontrollierte die Zimmernummer und als er sah, dass sie richtig war, schüttelte er den Kopf. Vergeblich versuchte er sein Date telefonisch zu erreichen.