Der Brief

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Der Brief

Kurts Augen leuchteten als er seinen Freund vor sich stehen sah: „Wenn ich dich so ansehe, dann bin ich wirklich stolz auf dich. Ich freu mich riesig für dich!“

Ben hatte sich gerade um die eigene Achse gedreht, sich sogar den Ring probeweise an den Finger gesteckt, den Kurt dann verwahren sollte und stand nun vor ihm, strahlte heller als die Sonne draußen. Dass sein bester Freund an diesem Tag und in dieser Stunde bei ihm war, bedeutete ihm sehr viel. Und dass er die Gefühle benannte, die ihn augenscheinlich überwältigten, rührte ihn. Sein Freund aus Kindheitstagen, sein Gipfelgenosse, sein Bierkumpel Kurt – heute in dunkelblauem Anzug, mit weißer Rose im Knopfloch, war er der richtige Mann am richtigen Ort. Kurt hatte es immer schon geschafft, ihm Ruhe zu vermitteln. Auf Kurt war Verlass. Kurt würde ihn in einer knappen Stunde auch am Traualtar zur Seite stehen.

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Ben machte einen Schritt auf seinen Trauzeugen zu, um ihn zu umarmen, da klingelte Kurts Handy.

„Mach mal“, gab ihn Ben frei und wandte sich dem großen Wandspiegel zu.

„Es ist Mia“, antwortete Kurt und verzog sich Richtung Fenster, während er den Anruf annahm:  „Hallo Liebes, na wie geht’s?“.

Ben war zufrieden mit seinem Spiegelbild, konnte sich gar nicht sattsehen an sich selbst. Mehrmals drehte er sich von links nach rechts und von rechts nach links, wischte hier ein vermeintliches Haar weg, glättete dort den Stoff und legte sich die Hand mit dem glänzenden Ring auf das Hosenbein. Zufrieden spähte er zu seinem Freund, der mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand und hörte wie er sagte:  „Nein, das stimmt so nicht. Mia bitte, lass mich das erklären, aber nicht jetzt. Ich kann gerade nicht. Wir müssen gleich los“.

Es schien irgendein Missverständnis mit Mia zu geben. Und irgendwie war Ben nicht überrascht. Mia war immer schon eine komplizierte Frau gewesen. Ein Rätsel, was Kurt an ihr fand und mehr noch, dass er sie überhaupt geheiratet hatte. Heute erbrachte sie den Beweis, dass sie außerdem unfair war. Sie wusste, dass Kurt bei ihm war, war natürlich auch eingeladen, hatte aber kurzfristig entschieden, nicht mitzukommen. Ihr Sohn hatte Windpocken oder Mumps. Was wollte sie also?

Ben wollte sich seinen Tag jedenfalls nicht mit Gedanken an Mia verderben lassen und blickte sich suchend im Zimmer um. Da fiel ihm Veras Brief ins Auge. Er lag auf dem Nachttisch. Vera hatte ihn am Morgen in einem großen Kuvert voller goldener Herzen durch den Türspalt geschoben. Als er ihn gelesen hatte, war sein Herz fast übergegangen vor Glück. Jetzt wollte er sich in diesen Zeilen noch einmal räkeln, bis Kurt sein Telefonat beendet hatte und sie los mussten.  

Während Kurt Schwierigkeiten zu haben schien, zu Wort zu kommen, setzte sich Ben aufs Bett und begann die Worte vor seinen Augen zu inhalieren:

„Mein alles geliebter Ben. Du Schönster aller Schönen. Mein absoluter Lieblingsmensch. Mein Glück und meine Freude. Seit wir uns vor zwei Jahren in Venedig kennengelernt haben, ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht und mich nicht nach dir gesehnt hätte. Und heute wollen wir uns versprechen, den Rest des Lebens gemeinsam zu verbringen. Ich weiß es schon seit zwei Jahren: Ja, Ja, und  Jaaaa! Mein geliebter, wunderbarer  Ben! Ja, ich will.“

„Nein, nein Mia, ich möchte das jetzt nicht diskutieren. Ich kann das jetzt nicht. Bitte“, zischten Kurts flehende Worte im Hintergrund. Ben räusperte sich und versuchte, sich auf seinen Brief zu konzentrieren: „Mein Herz geht über, wenn ich an dich denke und die Liebe in mir spüre, die ich für dich empfinde. Ich will für dich da sein. Immer. In guten wie in schlechten Zeiten. Ich weiß, dass uns nichts passieren kann, solange wir uns lieben“.

 „Mia, das ist unfair und du weißt das auch. Ich werde jetzt auflegen. Ich kann jetzt nicht und bitte dich, das zu respektieren. Morgen können wir über alles reden“, platzierte Kurt nun deutlich hörbar in sein Smartphone.

Instinktiv blickte Ben zu Kurt hinüber und wunderte sich nun doch. Das war gar nicht Kurts Art. Der stand jedoch immer noch mit dem Rücken zu ihm. Hilflos wandte sich Ben wieder Veras Zeilen zu. Die schienen ihre magische Kraft vom Morgen nur widerwillig hergeben zu wollen. Ben rückte sich zurecht, zog kurz die Schultern zurück und seinen Rücken gerade dann nahm er den Brief fest in seine Hände. Wo war er stehen geblieben? Hier, „… solange wir uns lieben.

Licht meiner Träume, Traummann, Mann aller Männer. Ich liebe einfach alles an dir, dein ansteckendes Lachen, die zarten Härchen auf deinen Armen, deine warmen, weichen Hände …“

„Tja, dann lass es eben. Schluss jetzt. Mia ich sage es ein letztes Mal. Morgen können wir über alles reden. Nicht jetzt. Tschüss“. Kurts Schritte kamen schnell näher. Als ob das Gespräch in einem anderen Raum stattgefunden hätte, schloss er mit einer kurzen an Ben gerichteten Entschuldigung rasch eine unsichtbare Tür hinter sich. Dann trat er vor Ben: „ Und? Bist du bereit? Wollen wir?“.

Ben sah seinen Freund an und zögerte kurz, als müsse er sich in seiner Haut zurechtfinden, dann nickte er. „Bin bereit“, spuckte er aus, legte den Brief zur Seite und stand auf.